Wanderungen: Menschen auf der Flucht

Wanderungen: Menschen auf der Flucht
Wanderungen: Menschen auf der Flucht
 
Auf den ersten Blick scheint die Migration großer Bevölkerungsgruppen ein Phänomen der Moderne. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Menschheit schon immer auf Wanderschaft war. Die Auslöser waren oft dieselben wie heute: Bevölkerungswachstum, Hunger und Umweltveränderungen zwangen die Menschen dazu, angestammte Gebiete zu verlassen. Tatsächlich neu an der Migration ist das heutige Ausmaß: Noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht vor Armut, Gewalt und Umweltzerstörung.
 
 Migranten der Steinzeit
 
Das Phänomen Migration ist so alt wie die Geschichte der Menschheit; Migration ist sogar die Voraussetzung für die Entwicklung der heutigen Kulturen. Die Wanderungen unserer steinzeitlichen Vorfahren zu ermitteln, ist allerdings schwierig. In den vergangenen Jahren haben Anthropologen und Genetiker versucht, mithilfe von Erbgutanalysen den menschlichen Stammbaum zu rekonstruieren, um daraus dann Rückschlüsse auf die vorzeitlichen Migrationsbewegungen zu ziehen. Das Ergebnis ihrer Überlegungen sind drei unterschiedliche Modelle, deren Protagonisten sich zum Teil heftige Dispute miteinander liefern.
 
(1) Das »multiregionale Modell« geht davon aus, dass sich die Menschenrassen während eines Zeitraums von 20000 Jahren auf verschiedenen Kontinenten entwickelt haben.
 
(2) Das »Out of Africa-Modell« lokalisiert den Ursprung der menschlichen Entwicklung in Afrika; von dort sollen unsere Vorfahren in alle Welt migriert sein.
 
(3) Das »Gene flow-Modell« nimmt an, dass die modernen Menschen auf ein Netz prähistorischer genetischer Linien zurückgehen, die sich durch Migration zunehmend vermischt haben.
 
Auch wenn bis heute nicht bewiesen ist, welches der Modelle die Vergangenheit exakt beschreibt, so ist doch eines sicher: Irgendwann begannen unsere Vorfahren zu wandern. Um 10000 vor Christus marschierten sie über die Beringstraße von Asien nach Amerika.
 
Doch was trieb Homo sapiens in die Ferne? Der amerikanische Anthropologe Marvin Harris vermutet, dass einst Hunger die Jäger und Sammler zur Migration zwang. Knochendichtemessungen an steinzeitlichen Skeletten zeigen nämlich Wachstumsstörungen, die auf lange Phasen von Nahrungsmangel hinweisen. Die Ursachen sind unklar: Vielleicht erzeugte der ständig wachsende Bevölkerungsdruck Platzmangel, der zum Ausweichen in andere Regionen zwang. Beobachtungen an heutigen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften zeigen einen Platzbedarf von einem Quadratkilometer pro Person. Für denkbar hält Harris in seinem Buch »Menschen« auch, dass die Jäger sich ihre Lebensgrundlage selbst entzogen, indem sie die Großwildbestände zu stark dezimierten.
 
 Steinzeitliche Revolution verringert Platzbedarf
 
Die frühen Migranten wurden höchstwahrscheinlich getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben in der Ferne. Tatsächlich fanden sie vielerorts günstige Bedingungen, ließen sich dort nieder und vermehrten sich rasch. Im Jungpaläolithikum betrug die Weltbevölkerung schätzungsweise 3,4 Millionen Menschen. Das demographische Wachstum war in erster Linie ein biologischer Schutzmechanismus zur Erhaltung der Art. Je mehr Individuen einer Art die Erde bevölkern, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Seuchen, Dürren und Hungerzeiten übersteht. Diese Jahrtausende alte Bevölkerungsstrategie ist im ersten Buch Mose (1,28) treffend beschrieben: »Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan
 
Die Grenze des Wachstums war schon in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte der Platzbedarf: Eine Jäger-und-Sammler-Familie braucht viele Quadratkilometer zum Überleben. Vor etwa 7000 Jahren, mit Beginn der Jungsteinzeit, schrumpfte durch Umweltveränderungen jedoch der Lebensraum. Das Klima änderte sich, Wüsten breiteten sich aus. Das sinkende Platzangebot führte allerdings nicht zu einem Rückgang der Weltbevölkerung, sondern im Gegenteil zu einem weiteren Anstieg: Unsere Vorfahren wanderten in die Flusstäler von Nil, Euphrat, Tigris und Indus. Dort wurden sie sesshaft und begannen, Gerste, Hirse und Weizen anzubauen. Diese »Landwirtschaftliche Revolution der Jungsteinzeit« verringerte den Platzbedarf drastisch und schuf damit die Voraussetzung für eine rasante Vermehrung der Menschheit: 5000 vor Christus zählte sie schon zwölf Millionen Köpfe, und 3000 vor Christus gab es bereits 30 Millionen Menschen auf der Erde.
 
 Bevölkerungswachstum durch technischen Fortschritt
 
Die permanente Entwicklung der Landwirtschaft deckte über sehr lange Zeiträume den Platz- und Kalorienbedarf der ständig wachsenden Menschheit. Doch im 17. Jahrhundert reichten die Ernteerträge in Europa bereits nicht mehr für das tägliche Brot. Wieder einmal war eine Grenze des Wachstums erreicht, und wieder wurde sie überschritten: Im Jahr 1765 erfand James Watt die Dampfmaschine; mit ihrer Hilfe gelang es nun, die Produktivität enorm zu steigern.
 
Der Beginn der industriellen Revolution beendete in Europa die Ära der Landwirtschaft, die verarmten Kleinbauern zogen damals in die Städte und suchten sich Arbeit in den neu entstandenen Fabriken. Diese ernährten — wenn auch unter meist menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen — mehr Menschen, als Ackerbau und Viehzucht zuvor jemals vermocht hätten. Und damit begann der unaufhaltsame Aufstieg der Menschheit zum Milliardenvolk. Gerard Piel konstatiert dazu: »Um 1600 stellten die Völker Europas weniger als ein Zehntel der damaligen Weltbevölkerung von rund fünfhundert Millionen, 1950 waren sie auf ein Drittel der Weltbevölkerung angewachsen, die inzwischen zweieinhalb Milliarden betrug.«
 
Das Fazit, das sich daraus ziehen lässt, lautet: Überbevölkerung ist keine absolute, sondern eine relative Größe. Sie hängt nicht davon ab, wie viele Individuen auf einer bestimmten Fläche leben, sondern vor allem davon, wie sie dort leben.
 
Alles in allem ging es den meisten Menschen nach der industriellen Revolution besser als vorher: Im Zuge der Technisierung gab es genug Brot und sauberes Trinkwasser; Medikamente verringerten die Kindersterblichkeit, das Durchschnittsalter stieg. Vor allem der europäische Teil der Weltbevölkerung wuchs nun unaufhaltsam weiter. Platzmangel entstand trotzdem nicht, denn die Kolonialisierung schuf ein Ventil, durch das der »Bevölkerungsdruck« entweichen konnte. Abenteurer und Glücksritter, Habenichtse, Beamte und Siedler wanderten scharenweise von Europa nach Afrika, Asien und in die Neue Welt nach Amerika aus.
 
 Wachstum mit Ende
 
In Europa endete das rasante Bevölkerungswachstum zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Experten bezeichnen diese Stabilisierung der Bevölkerungszahl als »demographischen Übergang«. Interessant ist, dass dieser zunächst mit einem Anwachsen der Bevölkerung verbunden war: In der ersten Phase führte die Industrialisierung zu verbesserten Lebensbedingungen, einer Senkung der Säuglingssterblichkeit und höheren Lebenserwartungen. »Bis 1600, wo wir den Beginn der industriellen Entwicklung ansetzen, lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei 25 Jahren. Um die hohen Sterberaten, besonders der Kinder, zu kompensieren, hielten die Leute an hohen Geburtenraten fest«, erläutert Gerard Piel in seinem Buch »Erde im Gleichgewicht«. Erst mit der Gründung der europäischen Wohlfahrtsstaaten begann die zweite Phase des demographischen Übergangs: der Verzicht auf zahlreiche Kinder.
 
Die sinkenden Geburtenraten waren das Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung: Im 19. Jahrhundert wurden — als Reaktion auf Arbeitslosigkeit und Massenarmut — die Sozial-, Kranken- und Rentenversicherung eingeführt. Vor allem die neue Form der Altersversorgung machte Kinderreichtum überflüssig. Zudem kosteten Nachkommen nun Geld — sie arbeiteten nicht mehr auf den Feldern oder im Stall, sondern gingen zur Schule. Kinder, einst das Fundament des Wohlstands, bedeuteten Verzicht. Mit zunehmender Schulbildung, vor allem der Mädchen, sanken die Geburtenraten weiter.
 
 
In den Ländern der »Dritten Welt« nahm die Geschichte einen anderen Lauf als in den Industriestaaten. Die Kolonialisierung schuf zunächst die Voraussetzung für den demographischen Übergang: Missionare und Ärzte brachten die Bibel, medizinische und hygienische Grundbegriffe, Impfstoffe und Wasserpumpen selbst in abgelegene Dörfer. Die Säuglingssterblichkeit ging prompt zurück, doch auf den ersten Schritt folgte nicht der zweite. Kinder waren nach wie vor die einzige Altersversorgung, traditionelle Geschlechterrollen bestanden weiter, Verhütung galt als Sünde, die Geburtenraten blieben hoch. Dies war durchaus im Sinne der herrschenden Schicht, die Arbeitskräfte brauchte. Die Kolonialpolitik schuf so eine der Voraussetzungen für das rapide Bevölkerungswachstum der Gegenwart.
 
Wie aber lässt sich auch in Entwicklungsländern der demographische Übergang zu einer stabilen Bevölkerungsstruktur erreichen? Diese Frage sorgte in den letzten Jahren immer wieder für hitzige Diskussionen unter den Experten. Lange galt die Industrialisierung nach westlichem Vorbild als einzige Möglichkeit, auch in den armen Ländern die Lebensbedingungen spürbar zu verbessern, das Bildungsniveau zu heben, eine Sozialgesetzgebung einzuführen und die Geburtenraten zu senken. Mittlerweile vertreten aber zahlreiche Wissenschaftler das Konzept einer »nachhaltigen Entwicklung«, bei der ressourcenschonende Wirtschaftsmethoden sowie Programme zur Geburtenkontrolle im Vordergrund stehen.
 
Nicht nur demographisch, auch politisch leidet die »Dritte Welt« noch heute unter den Spätfolgen des Kolonialismus: Staaten, die ohne Rücksicht auf ethnische, religiöse und ökonomische Probleme auf dem Reißbrett der Kolonialmächte entstanden waren, erlangten nach dem Zweiten Weltkrieg die Unabhängigkeit. »Zerfallsprodukte dieser Imperien sind weltweit über hundert Staaten. Viele von ihnen leiden bis heute unter strittigen Außengrenzen, unbewältigten ethnischen Spannungen, mangelnder politischer Legitimität und wirtschaftlicher Unterentwicklung«, schreibt dazu Peter Opitz im »Manifest der 60«, in dem sechzig Wissenschaftler aus verschiedenen Fachgebieten zum Migrationsproblem Stellung nehmen.
 
In den ehemaligen Kolonien kam es in den vergangenen fünfzig Jahren zu rund zweihundert Konflikten und Kriegen, bei denen Millionen von Menschen ermordet oder vertrieben wurden. Beispiel Afrika: Hier wurde der Kampf um Land, Geld und Bodenschätze zunächst ideologisiert: Während des Kalten Kriegs kämpften die Verbündeten der Sowjetunion und der USA erbittert gegeneinander. Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation gingen die Kämpfe in Angola und im Sudan weiter. Opfer dieser Machtkämpfe sind vor allem die Bauern, deren Felder zerstört werden, die Frauen, deren Männer erschlagen werden, und die Kinder, deren Eltern verschleppt und ermordet werden. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, erklärte im Frühjahr 1999 anlässlich der Eröffnung der 55. Jahressitzung der Kommission: »Neunzig Prozent der Opfer sind Zivilisten — unbewaffnete Kinder, Frauen und Männer, Alte, Kranke und Flüchtlinge.«
 
Ein Ende des Terrors ist nicht in Sicht. Postkoloniale Armut und politische Konflikte sind die Ursachen eines ständig wachsenden Flüchtlingsstroms. Im UNHCR-Report »The State of the World's Refugees« heißt es dazu: »Für die Bürger vieler Staaten ist das Leben im letzten Jahrzehnt schwieriger und gefährlicher geworden... Mit dem Ende der Ära der Rivalität der Supermächte und der wachsenden Zahl der bewaffneten Konflikte innerhalb der Länder wächst die Besorgnis der internationalen Gemeinschaft um neue Formen der Instabilität; dazu gehören kommunale Konflikte, soziale Gewalt, Armut und Arbeitslosigkeit, organisiertes Verbrechen und Terrorismus genauso wie Migrationsbewegungen und Massenflucht.«
 
Dipl.-Geol. Monika Weiner
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Wanderungen von morgen
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Bevölkerungsexplosion: Ursachen und Folgen
 
 
Der globale Marsch. Flucht und Migration als Weltproblem, herausgegeben von Peter J. Opitz. München 1997.
 
Migration in Europa. Historische Entwicklung, aktuelle Trends und politische Reaktionen, herausgegeben von Heinz Fassmann u. a. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main u. a. 1996.
 Mitzscherlich, Beate: »Heimat ist etwas, was ich mache.« Eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozeß von Beheimatung. Pfaffenweiler 1997.

Universal-Lexikon. 2012.

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